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Digitale Entscheidung

Über kaum ein Thema wird derzeit (ich schreibe diese Zeilen 2018) so viel gesprochen, wie über die „Digitalisierung“. Gemeint ist damit eine tiefgreifende und wohl dauerhafte Veränderung von Arbeitsprozessen und Lebensgewohnheiten durch Nutzung moderner Informationstechnischer Möglichkeiten. Rationalisierungsfachleute, die sich in allen Unternehmen seit Jahrzehnten mit dem Einsatz von IT zur Effizienzerhöhung beschäftigen, können über den Begriff „Digitalisierung“ und den aus ihrer Sicht damit ausgelösten Rummel bzw. Hype oft nur schmunzeln, beschäftigen sie sich doch schon seit Jahren mit diesem Thema. Was unterscheidet die heutige „Digitalisierung“ von der, die früher erfolgreich betrieben wurde?

Aus unserer Sicht sind es die Menschen, die anders als früher, heute in den Mittelpunkt jeglicher Digitalisierungsbemühungen stehen. Informationstechnologie hat einen Reifegrad erreicht, der uns erlaubt, Menschen in ihrem Leben abzuholen.

Kunden müssen nicht mehr ins Reisebüro, administrative Mitarbeiter nicht mehr ins Büro, Piloten nicht mehr ins FOC. Digitalisierung lockert für viele Menschen räumliche Bindungen. Im einfachsten Fall checkt man online ein oder schaut sich Briefingunterlagen im Crewbus an, im Extremfall wird man zum digitalen Nomaden, der nicht nur seinen Arbeitsort, sondern auch seine Heimat zugunsten einer (vermeintlich?) unbegrenzten persönlichen Freiheit aufgibt.

Moderne IT erlaubt aber auch die Anpassung des Prozesses an den Menschen, sowie die Nutzung von Prozessen, die man im Detail nicht mehr verstehen muss. Die Nutzung älterer und primitiverer IT Systeme ist schwierig und oft Spezialisten vorbehalten. Im Privatleben war das z.B. der Videorekorder der 90er Jahre, der nur von einem in der Familie programmiert werden konnte und im Arbeitsleben das Computersystem, für das man wochenlange Schulungen brauchte. Benutzeroberflächen verziehen früher keine Fehler. Gab man den Strassennamen im Feld für die Stadt ein, so fand man die gesuchte Adresse nicht. Heute kopiert man alles samt Namen und Telefonnummer in ein Google Suchfeld und die komplexe IT im Hintergrund sortiert die Eingabe und blendet das für sie Unwesentliche aus. Die Einfachheit der Benutzeroberfläche, welche die komplexe IT im Hintergrund verbirgt, ist das, was moderne „Digitalisierung“ von den früheren Rationalisierungen unterscheidet.

Was heißt das nun für eine Airline? Uns ist klar, dass Digitalisierung nicht optional ist. Wer die Augen vor den Veränderungen verschließt, der wird die negativen Konsequenzen erfahren, ohne die Vorteile nutzen zu können. In den Flugbetrieben würden die Kosten steigen, wenn das Umfeld digitale Schnittstellen schafft und digitale Services erwartet, wir diese aber nur manuell bedienen können. Ein Beispiel: Wenn eine Behörde, bei der man bisher Verkehrsrechte per Brief oder Telex beantragte, auf eine XML-Schnittstelle umstellt, die Airline mangels angepasster IT die gewünschten Datensätze jedoch manuell mit einem Texteditor und nicht einem spezialisierten, die XML-Schnittstelle bedienenden Programm erzeugt, dann steigt der Aufwand, sogar gegenüber dem früher genutzten Brief bzw. Telex.

An der Digitalisierung kommt niemand vorbei. Eine Airline hat nur die Wahl zwischen Industry Leader, early adopter oder late follower. Diese Wahl ist schwer und sie ist für jedes Geschäftsfeld und dort für jede Prozessfamilie individuell zu treffen. Aber sie muss einer einheitlichen Strategie folgen. Dieser Artikel, möchte diese Strategie entwerfen.

Der Industry Leader muss am meisten investieren, geht das höchste Risiko ein, kann am meisten gewinnen oder verlieren. Der early adopter übernimmt das System des Industry Leaders und teilt dadurch teilweise sein hohes Risiko, sowie die erzielbaren Vorteile. Aber er ist nicht frei in der Prozessgestaltung, denn er muss seinen Prozess an das übernommene System anpassen, wird vom System abhängig und er kann dieses System auch nicht an Dritte vermarkten, denn es gehört ihm nicht. Der Late follower minimiert, vorausgesetzt es ist ein funktionierender Markt entstanden, Invest und Risiko, konnte aber die Vorteile des Systems sehr lange nicht nutzen und hat darüber hinaus die gleichen Nachteile, wie der Early Adopter.

Die Standardstrategie für Manager sagt, dass man in seinem Kerngeschäft die Industry Leadership anstreben sollte. Außerhalb seines Kerngeschäftes kann man, so die These, mit den dortigen Industry Leadern sowieso nicht konkurrieren und Invest lohnt nicht. Man wählt, je nach Einsparpotenzial und Opportunität, dort zwischen Early Adopter und Late Follower.

Wie wäre es nun, wenn eine Firma überall, also auch in den Commodities, Industry Leader sein möchte? Nehmen wir ein Extrem: Als Schreibprogramm wird eine selbstentwickelte Textverarbeitung genutzt, da diese den eigenen Prozess besser unterstützt als MS Office und natürlich wird auch von der Marketing Kampagne bis zur Finanzbuchhaltungssoftware alles „in-house“ entwickelt. Eine sicherlich absurde Vorstellung!

Es sind zwei weitere Extreme denkbar.

Einerseits eine Firma, welche IT Systeme der jeweiligen Marktführer lizenziert, ohne Rücksicht welche Prozesse, Komplexitäten, Abhängigkeiten und Folgekosten man sich dadurch hineinholt. Mitarbeiter müssen mit manuellen Tätigkeiten die Systembrüche überwinden. Man hantiert in der Operation, ja sogar im Cockpit, mit dutzenden Passwörtern, Work Arounds und grundverschiedenen Bedienkonzepten.

Andererseits eine Firma, welche ihr gesamtes Geschäft mit der Suite des Marktführers abwickelt. Einige Module sind gut, andere schlecht, aber alle folgen sie einem einheitlichen Bedienkonzept und tauschen Daten perfekt miteinander aus. Geschäftsvorfälle fließen ungebremst durch die IT. Doch der Handlungsspielraum der Firma wird durch die Software begrenzt. Kennt sie z.B. keine Premium Economy, 2-Hub-Operation, die A380 oder spezielle tarifvertragliche Regelungen, so sind entsprechende Konzepte nicht umsetzbar. Es ist anzunehmen, dass der Marktführer seine Suite gemäß den Bedürfnissen der Mehrzahl seiner Kunden weiterentwickeln wird. Airlines ohne spezielle Bedürfnisse, können damit zweifelsohne gut leben.

In der Realität werden die meisten Firmen ihre eigene Position, basierend auf ihrer Größe und Firmenstrategie, irgendwo innerhalb dieser drei Extrempositionen wählen. Kleinere Firmen werden weniger selbst machen als Größere. Da durch die Digitalisierung die Anzahl manueller Prozesse sinkt, sinkt bei Firmen, die IT zukaufen, die Anzahl der selbst gestaltbaren Prozesse. Dadurch sinkt die Fähigkeit schnell auf Veränderungen zu reagieren - bisher eine Spezialität kleinerer Firmen. Der sowieso schon globale Markt flugbetrieblicher IT wird sich weiter konsolidieren und konzentrieren. Digitalisierung begünstigt Suiten und lässt wenig Platz für selbst geniale Einzelmodule, denn die Hersteller der Nachbarsysteme bauen ihnen keine passenden Schnittstellen. Meine Prognose: In wenigen Jahren werden wenige Hersteller übergreifender Suiten den Markt flugbetrieblicher Software unter sich aufteilen.

Denn alle Großen bauen derzeit ihre Bastionen aus. Oft indem sie Firmen zukaufen, die ihnen das Anbieten von Suiten ermöglicht. SITAs marktbeherrschender AIRCOM Server wird verknüpft mit SITAONAIR und flugbetrieblichen IT-Services an den Flughäfen. RockwellCollins Kauf von ARINC und UTAS verknüpft Avionics Software mit Air-/Ground Netzen und Boden-IT. Thales Kauf der EFB Schmiede Navtec. Airbus Kauf von Navblue, Kooperation mit Palantir und die Aufnahme von Cloud Services im Big Data Bereich. Der Markt konsolidiert sich nicht durch den Zukauf von Konkurrenten, sondern durch den Zukauf von Komplementärfirmen, deren Märkte erst durch die Digitalisierung zusammenwachsen.

Für große Airlines ist diese Entwicklung bedrohlich, denn die eigene Prozesskompetenz wird gegenüber der Kompetenz, die in den Algorithmen steckt, immer unwesentlicher. Als Extremfall denke man sich eine Airline, die keine eigene Kompetenz mehr hat, sondern nur das macht, was ihr eine allumfassende zugekaufte Digitalsuite vorgibt. Diese Airline führt ausschließlich Prozesse aus, die ein Anderer definiert und in Algorithmen gegossen hat. Ihr Entscheidungsspielraum wird durch die Lücken, welche die IT noch nicht abdeckt oder bewusst nicht abdecken will, definiert. Es ist anzunehmen, dass Expertensysteme und KI die Latte dessen, was hier vorstellbar ist, noch weiter nach oben treiben werden. Denkbar ist, dass selbst Einstellungstests durch die Suite definiert und Einstellungsempfehlungen durch Algorithmen gegeben werden. Natürlich auch Entscheidungen über Neuanflüge, Ausbildungssyllabi, bestandene Checks, Anflugverfahren, Treibstoffentscheidungen, Flugzeugausrüstungsentscheidungen, etc. Digitalisierung endet ja nicht an den operativen Verfahren, sondern umfasst auch administrative Prozesse, bis hin zu strategischen Geschäftsentscheidungen.

Bis dahin, ist es natürlich noch ein langer Weg. Man wird Algorithmen noch viele Jahre keine strategischen Geschäftsentscheidungen treffen lassen. Aber z.B. Treibstoffentscheidungen rücken durch Expertensysteme (Analyzed Continguency) in den Bereich des Möglichen.

Was wir derzeit sehen ist die Gleichschaltung von Airlines in einer Airline Gruppe, durch Trennung der Verantwortungen für Prozessdefinition und Prozessausführung. (Process Ownership, Line Management).

In einer großen europäischen Airline Gruppe wird seit 2016 diese Trennung propagiert. Flugbetriebliche Prozesskompetenz wird in einer Organisation gebündelt. Nur die Verantwortung für die Ausführung der Prozesse liegt bei den einzelnen Flugbetrieben. Erinnern wir uns, dass – so die These des Autors – die Prozesse immer mehr durch Software Suiten definiert werden. Die Auswahl dieser Software Suiten und damit die Entscheidung, ob man hier ein fremdes Produkt lizenziert oder das Zepter in der Hand hält (= selbst entwickelt bzw. eine Individualentwicklung in Auftrag gibt), liegt beim Prozesseigner.

Die Gleichschaltung der Airlines in einer Airline Gruppe vergrößert die Zahl der Flugzeuge und Mitarbeiter, die mit den gleichen Prozessen und den gleichen IT Systemen arbeiten. Da Softwareentwicklungskosten vor allem mit der Funktionalität und weniger mit der Zahl der sie nutzenden Flugzeuge und Mitarbeiter skalieren, wird die Software Eigenentwicklung durch die Gleichschaltung attraktiver. Nutzt man diese Chance, dann wirkt dies dem durch die Digitalisierung eintretenden Verlust an Prozessgestaltungsfreiheit (auf Gruppensicht betrachtet) entgegen.

Unterstellt man, dass die Qualität einer Softwaresuite ausschließlich vom Invest abhängt (und nicht von Aspekten wie Fachkompetenz), so wird derjenige die beste Software schreiben, der am meisten investiert. Unterstellt man weiter, dass die beste Software die weiteste Verbreitung und damit die Marktführerschaft erzielt, so wird die Lizenzierung der besten Software auch die höchsten Erträge erzielen und dem Eigentümer so den größten Invest ermöglichen, was wiederum dazu führt, dass die beste Software ihren Vorsprung ausbauen und auf lange Zeit Marktführer bleiben kann. Das ist natürlich alles stark vereinfacht, aber es macht klar: Den Marktführer kann man, solange er kräftig investiert und keinen Fehler macht, auf seinem Gebiet nur im Falle eines disruptiven (von ihm zu spät erkannten Trends) schlagen. Das sehen wir am iPhone, WhatsApp, youtube, Facebook, Amazon, Twitter, google, Tesla – alles Marktführer auf ihrem Gebiet und durch nachahmende Zweite nicht mehr zu schlagen. Selbst Riesen wie Microsoft scheiterten trotz Milliarden-Investitionen in ihrem Bemühen z.B. eine Alternative zum iPhone zu etablieren. Der Zug ist abgefahren. Man kann nur versuchen den nächsten Zug (Trend) früher zu sehen und rechtzeitig aufzuspringen. (Sprachsteuerung, KI, Big Data, ….)

Der Autor empfindet die prozessgestaltende, alles umfassende Flugbetriebs-IT als einen abfahrenden Zug, auf den man aufspringen kann, oder den man abfahren lässt. Aufspringen erfordert Mut, denn das Risiko trotz hoher Investitionen nicht die Industry Leadership zu erzielen, ist zweifelsohne gegeben. Selbst wenn alle 700 Flugzeuge einer Airline Gruppe von einer einheitlichen, von dieser Airline Gruppe kontrollierten Software-Suite gesteuert würden, so sind dies nur vielleicht 5% der Weltluftflotte, d.h. es ist Platz für einen viel größeren Marktführer, der dank seines höheren Investpotenzials, die Industry Leadership erzielen kann. Oder anders ausgedrückt: Es ist im digitalen Zeitalter unmöglich die innovativste Airline der Welt zu sein, wenn man als Airline nur 5% des Weltluftverkehrs abdeckt und seine flugbetriebliche Software nicht an andere Airlines lizenziert.

Nun stellt sich natürlich die Frage, wieso man innovativ sein muss. Kann evtl. ein Late Follower dank der niedrigen Kosten eines funktionierenden Marktes flugbetrieblicher IT-Software wirtschaftlicher agieren, als ein Industry Leader?

Zunächst einmal bedarf es des erwähnten „funktionierenden Marktes“. Vor 15 Jahren hatte Jeppesen ein Monopol für Charting Software. Bei vielen Avionics-Datenbanken gibt es Monopole. Bei Triebwerken und teilweise bei den EFBs (Airbus Lizenzpolitik für Performance Module). Fremde Monopole, die man nicht umgehen kann, führen dazu, dass der eigene Gewinn kleiner und der des Monopolisten größer wird. Es ist für große Airlines sinnvoll und wirtschaftlich, Anstrengungen zu unternehmen, Monopole zu verhindern. Sind sie entstanden, so kann man sich vielleicht darüber bei einer Behörde beschweren oder klagen. Ich kenne keinen Fall, wo dies in unserer Branche erfolgreich gewesen wäre. Sind sie noch am Entstehen, so kann man versuchen, die Konkurrenz des entstehenden Monopolisten zu stärken, also mit anderen Worten auf den sich abzeichnenden Verlierer zu setzen. Auch nicht immer eine gute Idee. Oder man versucht es selbst.

Aber nehmen wir einmal an, es gibt einen funktionierenden entwickelten Markt, d.h. mindestens zwei Anbieter haben den Markt unter sich aufgeteilt. Unsere Branche kennt hier viele Beispiele: SITA und ARINC/RC bei Datalink. Lido und Sabre bei Flugplanung. Lido und Jeppesen beim Charting. Der Markt funktioniert, die mindestens zwei Anbieter unterbieten sich. Und jetzt kommt die Digitalisierung und lässt Einzelmodule zu Process Ownership-übergreifend eingesetzten Suiten verschmelzen. Die Marktkonsolidierung führt zur Stärkung der weniger werdenden Anbieter und einer Schwächung der zahlreichen Airlines, deren Prozesskompetenz und damit ihr Anteil an der Wertschöpfungskette immer mehr auf die Anbieter der Suiten übergeht.

Kerngeschäft einer Airline ist die Gewinnerzielung durch den Transport von Passagieren. Kernaufgabe eines Flugbetriebs dabei ist der sichere und kostengünstige Transport dieser Passagiere. Das Kerngeschäft wird gestärkt, wenn durch die Digitalisierung, die Sicherheit erhöht und die Transportkosten gesenkt werden. Digitalisierung verlagert Prozesskompetenz von den Köpfen der Mitarbeiter in die Programmierer von Algorithmen. Damit verlagert sich die Wertschöpfung unseres Kerngeschäftes. Diese Verlagerung kann innerhalb der Airline Gruppe erfolgen oder es kann nach Außen verlagert werden. Das ist die zu treffende strategische Entscheidung




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